Ansprache zur Ausstellung
Dr. Romana Breuer Kunsthistorikerin M.A.
Mit Schriftzeichen und Symbolen beschäftigt sich der heute in Magdeburg lebende Stahlbildhauer Joachim Röderer. Anders aber als im Kontext von Gemälden erinnern diese Zeichen nicht an Schrift, sie verkörpern jeweils ein isoliertes Zeichen. Die Plastiken aus Corten-Stahl, der durch die typische Bewitterung besonders widerstandsfähig sind, repräsentieren eine Form, die heute durchaus zum Weltwissen gehört – die der Chromosomen, wie sie in einem Karyogramm, also einer sortierten Darstellung einer bestimmten Phase während der Zellteilung, zur Anschauung kommt. Typisch für diese Phase ist die X-ähnliche Form, die darauf beruht, dass zwei Schwester-Chromatiden an einer Stelle noch zusammenhängen. Aus solchen, unter dem Mikroskop sichtbaren Bildern entwickelt Joachim Röderer in millionenfacher Vergrößerung dreidimensionale Stahlkörper, die den winzigen Trägern der menschlichen Erbinformationen ein Denkmal setzen.
In der Präsentation im Gebäude der IKK wird dieser Aspekt besonders schön hervorgehoben: Ein Chromo Baby wird auf einem historisierenden Sockel zur Schau gestellt und erinnert so vielleicht auch an die zeitliche Dimension des Erbguts im Sinne der menschlichen Evolution. Die in den Chromosomen enthaltene DNS besteht im Grunde genommen aus ‚Erinnerungsmolekülen‘ bzw. ‚Zukunftsbausteinchen‘ – je nachdem, in welche Richtung man schauen möchte.
Unabhängig vom Bedeutungskontext der Chromosomen können die Stahlplastiken aber auch als monumentale Schriftzeichen verstanden werden – beispielsweise als lateinisches X oder als griechisches Chi. Diese Lesarten werden besonders dann begünstigt, wenn die Objekte einen relativ regelmäßigen Aufbau haben. Die runden und weichen Enden und Taillen der isolierten plastischen Zeichen lassen wiederum an die typischen Sprühzeichen von Graffitis denken, die vom Sprayer häufig mit Schatten versehen werden, um einen dreidimensionalen Eindruck auf der Fläche zu erzielen. Oder aber man betrachtet die Bildhauerarbeiten von einem noch weiter gefassten Standpunkt aus, nämlich allein in Bezug auf ihre Plastizität, also in Hinblick auf Körpervolumen, Kontur und Oberfläche. An den Körpervolumina und Konturen der Objekte lassen sich sowohl Ausponderiertheit, also Balance, als auch Aktions- bzw. Bewegungsrichtungen ausmachen. Die Oberflächen sind gleichermaßen optisch wie haptisch zu erfassen. Die Formensprache lässt sich allgemein als ‚organisch’ bezeichnen.
Aus den beschriebenen unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Werkgruppe der Chromosomen ergibt sich jedoch kein ‚entweder oder’ sondern ein ‚sowohl als auch’. Joachim Röderer arbeitet konsequent an Plastiken, die ungewöhnliche Sichtweisen auf vermeintlich Bekanntes erlauben bzw. hervorrufen. Im Beispiel der Chromosomen ist dies z.B. die riesenhafte Vergrößerung und Verdinglichung von durchaus rätselhaften Formierungen, die in der ‚normalen’ Welt nicht sichtbar und dennoch vorhanden sind.
Die Strategie der Vergrößerung lässt sich schön auch an Formiga III nachvollziehen. Die monumentale Insekten-Plastik hat sich im Areal des Technologieparks niedergelassen. Ameisen sind uns bekannt. Üblicherweise jedoch kommen sie in geringer Größe – bis maximal 25 mm (zum Glück nicht in unseren Breiten) – und als staatenbildende Insekten in großer Anzahl vor. Mit stattlichen 3,20 x 2,40 x 2 Metern haben wir es hier wohl mit einer neuen Spezies zu tun bzw. mit einem Mutanten? Der Titel Formiga verweist auf das Anderssein des stählernen Riesen: Die lebenden Ameisen heißen lateinisch Formicidae, in der Einzahl also Formica. Formiga lässt nun zusätzlich an ‚Mega’ oder ‚Giga’ denken. Der Lupeneffekt, den der plastische Nachbau des Insektenkörpers in Stahl hervorruft, verdeutlicht aber auch die bildnerische Kraft, die bereits der Natur innewohnt. Nicht umsonst bemühen viele Mythen von der Entstehung der Welt die Vorstellung eines Schöpfer-Bildhauers.
Gedächtnis und Erinnerung, Wissen und Vorstellung – die heute beginnende Ausstellung regt an, über Aspekte von Schöpfung und Natur nachzudenken und durchaus auch zu philosophieren.
Die Änderung eines bislang eingenommenen Blickwinkels ist dabei durchaus erwünscht!
Dr. Romana Breuer
Kunsthistorikerin M.A.